Hier verbrachte nun Gorgo seinen Sommer zusammen mit den kleinen Gösseln und ward ihnen bald ein guter Kamerad. Da er sich selbst für ein Gössel hielt, gab er sich alle Mühe, so zu leben wie sie, und wenn sie in den See hinausschwammen, watete er hinter ihnen her, bis er nahe daran war zu ertrinken. Er schämte sich ganz schrecklich, daß er nicht schwimmen lernen konnte, und er ging zu Akka und beklagte sich. »Warum kann ich nicht ebensogut schwimmen lernen wie die anderen?« fragte er, – »Du hast zu krumme Zehen und zu große Klauen bekommen, während du da oben auf dem Felsvorsprung lagst,« sagte Akka. »Aber darum brauchst du dich nicht zu grämen, du wirst trotzdem ein tüchtiger Vogel werden.«

Die Flügel des jungen Adlers wurden bald so groß, daß sie ihn tragen konnten, aber es währte doch noch bis zum Herbst, wo die jungen Gänse fliegen lernen sollten, ehe es ihm einfiel, daß er die Flügel zum Fliegen gebrauchen konnte. Aber dann kam eine stolze Zeit für ihn, denn bei diesen Übungen war er bald der erste. Seine Gefährten blieben nie länger oben in der Luft, als sie mußten, während er sich fast den ganzen Tag dort aufhielt und sich in der Kunst des Fliegens übte. Noch war es ihm nicht klar geworden, daß er von anderer Art war als die jungen Gänse, aber er konnte nicht umhin mancherlei zu bemerken, was ihn erstaunte, und er kam immer wieder mit Fragen zu Akka. »Warum laufen die Schneehühner und Wanderratten davon, sobald sich mein Schatten über dem Felsen zeigt?« fragte er. »Vor den anderen jungen Gänsen sind sie doch nicht so bange.« – »Deine Flügel sind zu groß geworden, während du da oben auf dem Felsvorsprung lagst,« sagte Akka. »Das jagt den kleinen Tieren Furcht ein. Gräme dich aber deswegen nicht, du wirst doch ein tüchtiger Vogel werden!«

Nachdem der Adler Fliegen gelernt hatte, übte er sich auch, Fische und Frösche zu fangen, bald begann er aber auch darüber nachzugrübeln. »Woher kommt es, daß ich von Fischen und Fröschen lebe?« fragte er. »Das tut ja keins von meinen Geschwistern.« – »Das kommt daher, weil ich dir keine andere Nahrung bringen konnte, als du da oben auf dem Felsvorsprung lagst,« sagte Akka. »Aber deswegen brauchst du dich nicht zu grämen! Du wirst trotzdem ein tüchtiger Vogel werden!«

Als die Wildgänse ihre Herbstreise antraten, flog Gorgo mit ihrer Schar. Er betrachtete sich beständig als zu ihnen gehörig. Aber die Luft war voll von Vögeln, die sich auf dem Wege nach Süden befanden, und es entstand eine große Bewegung unter ihnen, als Akka mit einem Adler in ihrem Gefolge erschien. Scharen von Neugierigen umkreisten fortwährend das Volk der Wildgänse und gaben ihre Verwunderung kund. Akka bat sie, zu schweigen, aber es war unmöglich, so viele böse Zungen im Zaum zu halten. »Warum nennen sie mich einen Adler?« fragte Gorgo wieder und wieder. Er fühlte sich tief beleidigt. »Können sie denn nicht sehen, daß ich eine Wildgans bin? Ich bin kein Vogelräuber, der seinesgleichen auffrißt! Wie kommen sie nur einmal auf den Einfall, mir einen so häßlichen Namen zu geben?«

Eines Tages flogen sie über einen Bauerhof hin, wo eine Menge Hühner auf dem Misthaufen scharrten. »Ein Adler! Ein Adler!« riefen alle Hühner und liefen davon, um Schutz zu suchen. Gorgo aber, der von den Adlern immer als von wilden Bösewichtern hatte reden hören, vermochte seinen Zorn nicht zu meistern. Er faltete die Flügel zusammen, stieß mit Blitzesgeschwindigkeit hinunter und schlug die Fänge in eins von den Hühnern. »Ich will dich lehren, daß ich kein Adler bin!« rief er wütend und hieb mit dem Schnabel auf sein Opfer ein.

Im selben Augenblick hörte er Akka hoch oben aus der Luft nach ihm rufen; er gehorchte sofort und flog hinauf. Die alte Wildgans kam ihm entgegengeflogen und erteilte ihm eine Züchtigung, »Was fällt dir ein?« rief sie, während sie mit dem Schnabel nach ihm schlug. »Hattest du etwa die Absicht, das arme Huhn zu zerreißen? Du solltest dich schämen!« Als aber der Adler die Züchtigung, ohne sich zu wehren, hinnahm, erhob sich unter den großen Vogelscharen ringsumher ein Sturm von Hohn und spöttischen Bemerkungen. Der Adler hörte es und wandte sich mit einem zornigen Blick gegen Akka, wie wenn er sie anfallen wolle. Aber er änderte schnell sein Vorhaben, warf sich mit starkem Flügelschlag in die Luft hinaus, stieg so hoch empor, daß kein Ruf ihn erreichen konnte, und segelte da oben umher, so lange die Wildgänse ihn noch sehen konnten.

Drei Tage später erschien er wieder in der Schar der Wildgänse.

»Jetzt weiß ich, wer ich bin,« sagte er zu Akka. »Und wenn ich ein Adler bin, so muß ich auch leben, wie es sich für einen Adler geziemt, aber deswegen, meine ich, können wir doch gute Freunde bleiben. Dich oder eine aus deiner Schar werde ich niemals angreifen.«

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