Als sich der Junge der Stadt näherte, sah er die lustigen Puppenhäuser drinnen am Lande nicht mehr. Statt dessen waren die Ufer mit rußigen Fabrikgebäuden bedeckt. Hinter hohen Bretterzäunen dehnten sich große Kohlenhaufen und Holzstapel aus, und an schwarzen, schmutzigen Brücken lagen schwerfällige Frachtdampfer. Über das Ganze aber breiteten sich die schimmernden durchsichtigen Dächer aus, und sie bewirkten, daß alles so groß und gewaltig und fremd aussah, daß es fast schön wurde.
Die Wildgänse flogen an Fabriken und Frachtdampfern vorüber und näherten sich den nebelumhüllten Türmen. Da sanken plötzlich alle Dächer bis zum Wasser hinab, mit Ausnahme von einigen leichten, dünnen, fein rosenfarbenen, die über ihren Köpfen schwebten. Die anderen lagen da und wogten über Land und Wasser. Sie verbargen vollständig den Grundwall der Häuser und die unteren Teile, während man die obersten Stockwerke, die Dächer, Türme, Giebel und Frontispize deutlich sehen konnte. Einige Häuser erschienen dadurch so hoch, daß man an den Turm von Babel denken mußte. Der Junge konnte ja begreifen, daß sie auf Hügeln und Höhenzügen erbaut waren, aber die sah er nicht, er sah nur die Gebäude, die über den Dächern schwebten. Die Dächer waren schimmernd weiß, und die Häuser lagen schwarz und finster da, denn die Sonne stand im Osten und beschien sie nicht.
Niels begriff, daß er über eine große Stadt dahinschwebte, denn überall sah er Dächer und Türme aus dem Nebel aufragen. Zuweilen entstand eine Öffnung in den wogenden Nebeln, und er sah hinab in einen rinnenden, brausenden Strom, konnte aber nirgends Land erblicken. Es war alles schön zu sehen, doch fühlte er sich fast beklemmt, wie dies der Fall ist, wenn man Dingen begegnet, die man nicht versteht.
Sobald er die Stadt hinter sich hatte, war die Erde nicht mehr von Nebeln verhüllt; man konnte wieder deutlich den Strand, das Wasser und die Inseln unterscheiden. Da wandte er sich um, in der Hoffnung, die Stadt jetzt besser sehen zu können, aber das gelang ihm nicht. Sie sah jetzt nur noch verzauberter aus. Der Sonnenschein färbte die Dächer, so daß sie ganz fein rosenfarben, blau und gelb dahinschwebten. Die Häuser waren so weiß, als seien sie aus Licht gebaut, während Fenster und Türme wie Feuer lohten. Und alles floß auf dem Wasser zusammen, so wie vorhin.
Die Wildgänse flogen geradeswegs gen Osten. Anfangs sah es fast so aus, wie am Mälar. Zuerst flogen sie über Fabriken und Werkstätten. Dann sah man eine ganze Weile keine Villen am Ufer. Es wimmelte von Dampfern und Segelschiffen, aber jetzt kamen sie aus dem Osten und gingen nach Westen, in die Stadt hinein.
Sie flogen weiter, und statt der schmalen Mälarbuchten und der kleinen Inseln breiteten sich eine weitere Wasserfläche und größere Inseln unter ihnen aus. Das Festland wich zurück, bald war es nicht mehr zu sehen. Der Pflanzenwuchs wurde spärlicher, die Laubbäume seltener, die Föhren gewannen die Übermacht. Die Villen hörten ganz auf, und statt ihrer sah man Bauerhäuser und Fischerhütten.
Sie flogen noch weiter, und jetzt waren da keine von den großen, bewohnten Inseln mehr, nur eine Unendlichkeit von kleinen Schären waren über das Wasser ausgestreut. Das Land dämmte keine Buchten mehr ein. Groß und unbegrenzt lag das Meer vor ihnen.
Hier draußen ließen sich die Wildgänse auf einer Felsinsel nieder, und als sie festen Boden unter den Füßen hatten, wandte sich der Junge an Daunenfein: »Was für eine große Stadt war es, über die wir dahinflogen?« fragte er. »Ich weiß nicht, wie sie bei den Menschen heißt,« sagte Daunenfein. »Wir Graugänse nennen sie die Stadt, die auf dem Wasser schwimmt.«
Die Schwestern.
Daunenfein hatte zwei Schwestern, Flügelschön und Goldauge. Es waren starke und kluge Vögel, aber ihr Federkleid war nicht so weich und glänzend wie Daunenfeins, und ihr Sinn war nicht so sanft und milde. Schon als sie noch kleine, gelbe Gössel waren, hatten Eltern und Verwandte, ja sogar der alte Fischer, sie deutlich fühlen lassen, daß sie Daunenfein lieber hatten als sie, und deswegen hatten die beiden die Schwestern immer gehaßt. Als die Wildgänse auf der Schäre landeten, weideten Flügelschön und Goldauge auf einem kleinen grünen Fleck in der Nähe des Strandes. Sie erblickten die Ankömmlinge sofort.
»Siehst du die prächtigen Wildgänse, die sich hier auf der Insel niederlassen, Schwester Goldauge?« fragte Flügelschön. »Selten habe ich Vögel mit einer so stolzen Haltung gesehen. Und sieh nur, sie haben einen weißen Gänserich unter sich! Sahest du je einen so schönen Vogel? Man sollte fast glauben, es sei ein Schwan.«