Die Stadt, die auf dem Wasser schwimmt
Freitag, 6. Mai.
Niemand konnte sanfter und süßer sein als die kleine graue Gans Daunenfein. Alle die wilden Gänse hatten sie lieb, und der weiße Gänserich hätte gern sein Leben für sie gelassen. Wenn Daunenfein um etwas bat, konnte nicht einmal Akka nein sagen. Sobald Daunenfein an den Mälarsee kam, erkannte sie die Gegend wieder. Da draußen lag das Meer mit den vielen Schären, und da wohnten ihre Eltern und Geschwister auf einer kleinen Insel. Sie bat die Wildgänse mit nach ihrem Heim zu fliegen, ehe sie weiter nordwärts reisten, damit sie ihrer Familie zeigen könne, daß sie noch am Leben sei. Das würde eine so große Freude für sie sein.
Akka sagte ganz offen, sie fände, Daunenfeins Eltern und Geschwister seien keineswegs liebevoll gewesen, damals, als sie sie auf Öland zurückließen. Aber darin wollte ihnen Daunenfein nicht recht geben. »Was sollten sie wohl anderes tun, als sie sahen, daß ich nicht fliegen konnte?« sagte sie. »Sie konnten doch meinetwegen nicht auf Öland zurückbleiben!«
Um die Wildgänse zu bewegen, die Reise zu machen, begann Daunenfein von ihrem Heim draußen in den Schären zu erzählen. Es war eine Felseninsel. Wenn man sie in der Ferne sah, konnte sie aussehen, als sei da nichts weiter als Steine, kam man aber dahin, so entdeckte man das schönste Gras in Schluchten und Felsspalten. Und nach besseren Brutplätzen, als die in den Felsschluchten oder zwischen den Weidenbüschen dort, konnte man lange suchen. Das beste von allem aber war der alte Fischer, der da draußen wohnte. Daunenfein hatte gehört, daß er in seinen jungen Tagen ein eifriger Jäger gewesen war, der immer draußen zwischen den Schären lag und Vögel schoß. Aber jetzt in seinem Alter, wo seine Frau tot war und die Kinder die Heimat verlassen hatten, so daß er allein im Nest zurückgeblieben war, hatte er angefangen, die Vögel draußen auf seiner Schäre zu beschützen. Er gab nie einen Schuß auf sie ab und erlaubte auch nicht, daß andere es taten. Er ging von einem Vogelnest zum anderen, und wenn die Weibchen brüteten, holte er ihnen Futter. Niemand war bange vor ihm. Daunenfein war gar manches Mal in seiner Hütte gewesen und mit Brotkrumen gefüttert worden. Weil nun aber der Fischer so gut gegen die Vögel war, zogen sie in so großen Scharen nach der Schäre hinaus, daß es dort bald mit dem Platz knapp wurde. Kam man im Frühling zu spät dorthin, so konnte es vorkommen, daß alle Brutplätze besetzt waren. Deswegen hatten Daunenfeins Eltern und Geschwister von ihr fortreisen müssen.
Daunenfein bettelte so lange, bis sie ihren Willen bekam, obwohl die Wildgänse sehr wohl wußten, daß sie sich verspätet hatten und lieber geradeswegs gen Norden reisen sollten. Aber so ein Ausflug nach den Schären brauchte die Reise ja nur um einen einzigen Tag zu verzögern.
Sie brachen eines Morgens auf, nachdem sie sich mit einer guten Mahlzeit gestärkt hatten, und flogen gen Osten über den Mälar. Der Junge war sich nicht klar darüber, wohin sie nun kamen, aber er beobachtete, daß je weiter sie nach Osten kamen, es um so lebhafter auf dem See wurde, und die Küste um so dichter bebaut war.
Schwerbeladene Prähme und Schuten, Boote und Fischkutter waren auf dem Wege gen Osten, und eine Menge schöner, weißer Dampfer kamen ihnen entgegen oder fuhren an ihnen vorüber. Drinnen an Land liefen alle Landstraßen und Eisenbahnschienen demselben Ziel zu. Da draußen im Osten mußte irgendein Ort sein, dem sie alle jetzt in der frühen Morgenstunde zustrebten.
Auf einer der Inseln sah der Junge ein großes, weißes Schloß und ein wenig östlich davor begannen Villen die Ufer zu bedecken. Zu Anfang lagen längere Zwischenräume zwischen den einzelnen Häusern, nach und nach aber wurden sie dichter, und schließlich stand da am ganzen Ufer entlang eine Villa neben der anderen. Es waren Gebäude allerlei Art. Hier lag ein Schloß und da eine Hütte. Hier erhob sich ein langer Herrenhof und dort eine Villa mit vielen kleinen Türmen. Einige waren von Gärten umgeben, die meisten aber lagen ohne Gärten in dem Laubwald, der das Ufer umkränzte. Aber wie verschieden sie auch waren, etwas war ihnen allen eigen, sie waren nicht einfach und ernsthaft und alltäglich wie andere Häuser, sondern mit schönen, starken Farben, grün und blau und weiß und rot gemalt, wie Puppenhäuser.
Der Junge saß da und sah hinab auf die lustigen Villen am See, als Daunenfein einen Schrei ausstieß. »Jetzt weiß ich, wo wir sind! Dort liegt die Stadt, die auf dem Wasser schwimmt.«
Da sah Niels hinaus, konnte aber anfänglich nichts sehen als helle Dächer und Dämpfe, die über dem Wasser wogten. Bald aber konnte er hohe Türme unterscheiden und hier und da ein Haus mit vielen Fenstern. Sie tauchten auf und verschwanden wieder, während die Nebel hierhin und dahin trieben. Aber er sah keinen Strand. Es schien alles auf dem Wasser zu ruhen.