»Das ist gar nicht übel erraten,« antwortete der Rabe. »In alten Zeiten hat der König hier seinen Sitz gehabt. Aber nun ist es vorbei mit der Herrlichkeit.«

Der Junge sah sich noch einmal um, und da bemerkte er vor allen Dingen den großen Dom, der in der Abendsonne dalag mit seinen drei hohen, glitzernden Türmen, seinen stattlichen Portalen und den reich geschmückten Mauern. »Vielleicht wohnt hier ein Bischof mit seinen Geistlichen?« fragte er.

»Das ist gar nicht übel erraten,« sagte Bataki. »Hier haben einstmals Erzbischöfe gewohnt, die so mächtig waren wie Könige, und noch heutigen Tages wohnt hier ein Erzbischof, aber der regiert hier jetzt nicht.«

»Dann weiß ich nicht, was ich raten soll,« sagte der Junge.

»Die Gelehrsamkeit wohnt und regiert hier in der Stadt,« sagte der Rabe, »und die großen Gebäude, die du überall siehst, sind ihr und ihren Leuten zu Ehren errichtet.«

Das wollte Niels kaum glauben. »Komm du nur mit, dann wirst du schon sehen!« sagte der Rabe und sie flogen hin und besahen die großen Häuser. An verschiedenen Stellen standen die Fenster offen. Der Junge konnte hier und da hineingucken, und er sah, daß der Rabe recht hatte.

Bataki zeigte ihm die große Bibliothek, die vom Keller bis zum Boden voller Bücher war. Er führte ihn nach dem stolzen Universitätsgebäude und zeigte ihm die prächtigen Vorlesungssäle. Er flog an dem alten Gebäude vorüber, das Gustavianum heißt, und durch die Fenster sah der Junge ausgestopfte Tiere. Sie flogen über die großen Treibhäuser mit den vielen fremdländischen Pflanzen, und sie guckten auf das Observatorium hinab, wo das große Fernrohr zum Himmel hinauf gerichtet stand.

Sie schwebten auch an vielen Fenstern vorüber und sahen alte Herren mit einer Brille auf der Nase. Die saßen und schrieben oder lasen in Zimmern, deren Wände ganz mit Büchern bedeckt waren, und sie flogen an Mansardenstübchen vorüber, wo die Studenten, so lang sie waren, auf ihren Sofas lagen und über dicken Büchern schwitzten.

Schließlich ließ sich der Rabe auf einem Dach nieder. »Kannst du nun sehen, daß das, was ich sagte, wahr ist? Die Gelehrsamkeit herrscht hier in der Stadt!« Und der Junge mußte einräumen, daß er recht hatte. »Wäre ich nicht ein Rabe,« fuhr Bataki fort, »sondern ein Mensch, so wie du, so würde ich mich hier niederlassen. Ich würde tagaus, tagein in einer solchen Stube voller Bücher sitzen und alles lernen, was darin steht. Hättest du nicht auch Lust dazu?« – »Nein, ich glaube, ich möchte lieber mit den Wildgänsen reisen,« antwortete der Junge. – »Möchtest du nicht einer von denen werden, die Krankheiten heilen können?« fragte der Rabe. – »Ach ja, vielleicht.« – »Möchtest du nicht einer von denen werden, die alles wissen, was sich in der Welt zugetragen hat, die alle Sprachen sprechen und sagen können, was für Bahnen Sonne und Mond und Sterne am Himmel beschreiben?« sagte der Rabe. – »Freilich, das könnte ja ganz erbaulich sein.« – »Hättest du nicht Lust, den Unterschied von Gut und Böse, Recht und Unrecht kennen zu lernen?« – »Das könnte ja ganz nützlich sein,« sagte der Junge, »das habe ich oft bemerkt.« – »Und hättest du nicht Lust, zu studieren und Geistlicher zu werden und daheim in der Kirche zu predigen?« – »Vater und Mutter würden sich schrecklich freuen, wenn ich es soweit brächte,« antwortete der Junge.

Auf die Weise machte der Rabe Niels begreiflich, daß die Menschen, die in Upsala wohnen und studieren konnten, glücklich seien, aber bisher hatte Däumling noch nicht gewünscht, einer von ihnen zu sein.

Dann traf es sich aber, daß das große Fest zu Ehren des Frühlings, das alljährlich in Upsala gefeiert wurde, gerade an diesem Abend stattfand. Es hatte eigentlich am ersten Mai stattfinden sollen, aber da goß es in Strömen vom Himmel herab, und das Fest ward auf einen anderen Tag verschoben.

Und so ging es zu, daß Niels Holgersen die Studenten zu sehen bekam, als sie nach dem Botanischen Garten hinauszogen, wo das Fest gefeiert werden sollte. Sie kamen in einem großen, breiten Zug daher mit weißen Mützen auf dem Kopf und die ganze Straße war wie ein dunkler Fluß voll weißer Wasserrosen. Vor dem Zuge her wurden weiße, goldgestickte Fahnen getragen, und während des ganzen Marsches sangen sie Frühlingslieder. Niels hatte die Empfindung, als sängen sie nicht selbst, als begleite der Gesang sie, über ihren Köpfen hinschwebend. Ihm war es, als sängen nicht die Studenten zu Ehren des Frühlings, sondern als sitze der Frühling irgendwo verborgen und singe den Studenten etwas vor. Er hatte nie eine Ahnung davon gehabt, daß Menschengesang so klingen könne. Es war wie ein Sausen in Tannenwipfeln, wie Klang von Stahl, wie der Gesang wilder Schwäne am Strande.

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