Der Student.
Donnerstag, 5. Mai.
Zu der Zeit, als Niels Holgersen mit den Wildgänsen durch das Land reiste, war in Upsala ein prächtiger junger Student. Er wohnte in einer kleinen Dachkammer und war so sparsam, daß die Leute sagten, er lebe von fast gar nichts. Seine Studien betrieb er mit Lust und Liebe, so daß er schneller damit fertig wurde, als irgendeiner von den anderen. Aber deswegen war er durchaus kein Bücherwurm oder Duckmäuser; er konnte sehr wohl mit den Kameraden lustig sein. Er war gerade so, wie ein Student sein soll. Er hatte keine Fehler, wenn man es nicht etwa einen Fehler nennen will, daß er infolge all seines Glücks ein wenig verwöhnt war. Aber das kann dem Besten passieren. Das Glück ist nicht so leicht zu ertragen, namentlich nicht in der Jugend.
In einer Morgenstunde, gerade als der Student erwacht war, lag er da und dachte darüber nach, wie gut er es doch habe. »Alle Menschen haben mich gern, Kameraden wie auch Lehrer,« sagte er zu sich selbst. »Und so vorzüglich, wie es mir mit meinem Studium gegangen ist! Heute soll ich zum letztenmal zum Tentamen, und dann bin ich bald fertig. Und wenn ich nur rechtzeitig fertig werde, so bekomme ich eine Stellung mit gutem Gehalt. Es ist merkwürdig, was für ein Glück ich gehabt habe. Aber ich tue ja auch meine Pflicht, da ist es ja ganz natürlich, daß es mir gut geht.«
Die Studenten in Upsala sitzen nicht zusammen in Schulstuben und lernen wie Schulkinder, sie sitzen jeder für sich in seinem Zimmer und studieren. Wenn sie mit einem Fach fertig sind, gehen sie zu ihren Professoren und werden in dem ganzen Fach auf einmal überhört. So eine Überhörung heißt ein Tentamen, und das, zu dem der Student an diesem Tage gehen sollte, war gerade das Letzte und Allerschwerste.
Sobald er sich angekleidet und Kaffee getrunken hatte, setzte er sich an seinen Schreibtisch, um einen letzten Blick in seine Bücher zu werfen. »Ich glaube eigentlich, es ist ganz überflüssig, so gut wie ich vorbereitet bin,« dachte der Student, »aber es wird wohl am besten sein, wenn ich so lange wie möglich büffle, dann brauche ich mir wenigstens keine Vorwürfe zu machen.«
Er hatte kaum einen Augenblick gelesen, als es an seine Tür pochte, und ein Student mit einem dicken Buch unterm Arm bei ihm eintrat. Es war dies ein Student von ganz anderer Art wie der, der dort am Schreibtisch saß. Er war verschämt und schüchtern und sah abgearbeitet und ärmlich aus. Es war einer von denen, die sich auf Bücher verstehen, aber auch auf nichts weiter. Es hieß, daß er sehr gelehrt sei, aber er war so scheu und ängstlich, daß er sich nie zu einem Tentamen hatte entschließen können. Alle glaubten, er werde »ewiger Student« werden, ein Jahr nach dem anderen in Upsala bleiben und studieren und studieren, es aber nie zu etwas bringen.
Er kam nun, um den Kameraden zu bitten, ein Buch zu lesen, das er geschrieben hatte. Es war nicht gedruckt, sondern nur mit der Hand geschrieben. »Du würdest mir einen großen Gefallen tun,« sagte er, »wenn du dir dies hier ein wenig ansehen und mir sagen wolltest, ob es taugt.«
Der Student, dem das Glück stets lächelte, dachte bei sich: »Ist es nicht, wie ich vorhin sagte, daß mich alle gern haben? Hier kommt nun dieser Sonderling, der sich nicht hat überwinden können, seine Arbeit irgend jemand zu zeigen, und bittet mich, sie zu beurteilen.«
Er versprach, die Handschrift so schnell wie möglich zu lesen, und der andere legte das Buch auf den Schreibtisch neben ihn. »Du mußt gut acht darauf geben,« sagte er, »ich habe fünf Jahre daran gearbeitet, und wenn es abhanden käme, kann ich es nicht noch einmal machen.« – »Solange es bei mir ist, wird ihm nichts zustoßen,« sagte der Student. Und dann ging der andere.
Der Student nahm das dicke Buch zur Hand. »Ich möchte doch wissen, was der da zusammengeschmiert hat,« sagte er. »Ach so, die Geschichte der Stadt Upsala! Das klingt ja gar nicht übel!«
Nun liebte dieser Student Upsala über alle anderen Städte, und er war neugierig zu lesen, was der alte Student über die Stadt geschrieben hatte. »Wenn ich mir die Sache recht überlege, kann ich seine Geschichte ebensogut jetzt gleich lesen,« murmelte er. »Es hat ja doch keinen Zweck, hier noch im letzten Augenblick zu sitzen und zu büffeln. Deswegen geht es auch nicht besser, wenn man zum Professor kommt.«
Der Student las und erhob die Augen nicht von den Blättern bis er zum letzten gekommen war. Als er geendet hatte, war er sehr vergnügt. »Das muß ich sagen, dies ist ja eine ganz kolossale Gelehrsamkeit!« sagte er. »Wenn dies Buch erscheint, ist sein Glück gemacht. Wie ich mich darauf freue, ihm zu erzählen, wie gut sein Buch ist!«