Der kostbare Gürtel.
Mittwoch, 15. Juli.
Ohne Aufenthalt flog der Adler nordwärts, bis er ein gutes Stück über Stockholm hinausgekommen war. Dort ließ er sich auf einen Hügel hinab und lockerte den Griff, mit dem er den Jungen hielt.
Aber kaum fühlte sich dieser frei, als er, so schnell er nur konnte, nach der Stadt zurücklief.
Da machte der Adler einen langen Sprung, holte Niels ein und legte seine Klaue auf ihn. »Ist es deine Absicht, wieder in dein Gefängnis zurückzukehren?« fragte er. – »Was geht das dich an? Ich kann doch wohl gehen, wohin ich will, ohne dich um Erlaubnis zu fragen,« sagte der Junge und versuchte zu entschlüpfen. Da packte ihn der Adler fest und sicher mit seinen starken Fängen, hob die Flügel und flog wieder nordwärts.
Nun flog der Adler mit dem Jungen über ganz Uppland hin und machte nicht eher halt, als bis er an einen großen Wasserfall bei Älvkarleby kam. Er ließ sich auf einem Stein nieder, der gerade unter dem brausenden Wasserfall lag, und ließ dann seinen Gefangenen wieder los.
Niels erkannte sogleich, daß es ganz unmöglich war, dem Adler hier zu entkommen. Von oben her kam die weiße Schaumwand auf sie herabgestürzt, und rings um sie brauste der Elf. Er war sehr erbost, daß er auf diese Weise gezwungen wurde, wortbrüchig zu werden. Er wandte dem Adler den Rücken zu und wollte kein Wort mit ihm reden.
Aber jetzt, wo der Adler den Jungen an eine Stelle niedergesetzt hatte, wo er ihm nicht entweichen konnte, erzählte er ihm, daß er von Akka von Kebbnekajse aufgezogen worden sei, daß aber jetzt Feindschaft zwischen ihm und seiner Pflegemutter herrsche. »Und nun verstehst du wohl, Däumling, weshalb ich dich zu den Wildgänsen zurückbringen will,« sagte er schließlich. »Ich habe sagen hören, du stündest in hoher Gunst bei Akka, und nun wollte ich dich bitten, den Frieden zwischen uns beiden zu vermitteln.«
Sobald der Junge begriff, daß ihn der Adler nicht nur aus Eigensinn fortgetragen hatte, wurde er wieder freundlich gegen ihn. »Ich würde dir gern in dieser Angelegenheit helfen,« sagte er, »aber ich bin ja durch mein Versprechen gebunden.« Und nun erzählte er seinerseits dem Adler, wie er in die Gefangenschaft geraten war, und daß Klement Larsson Skansen verlassen hatte, ohne ihm seine Freiheit zu schenken.
Aber der Adler wollte seine Pläne nicht aufgeben. »Hör' einmal, was ich dir sagen werde, Däumling!« begann er. »Meine Flügel können dich tragen, wohin du willst, und meine Augen können erspähen, was du auch suchst. Erzähle mir, wie der Mann aussah, der dir das Versprechen abgenommen hat, und ich will ihn aufsuchen und dich zu ihm bringen! Dann ist es deine Sache, daß du ihn dazu bringst, dich freizugeben!«
Niels Holgersen fand, daß dieser Vorschlag gut war. »Man kann merken, daß du in Akka einen guten Vogel als Pflegemutter gehabt hast, Gorgo,« sagte er. Dann beschrieb er Klement Larsson ganz genau und fügte hinzu, er habe auf Skansen gehört, der kleine Spielmann sei aus Hälsingeland.
»Gut, dann suchen wir ganz Hälsingeland ab von Lingbo bis zum Mellansee, vom Storberg bis Hornsland,« sagte der Adler. »Morgen, noch bevor es Abend ist, sollst du mit dem Mann reden.« – »Jetzt versprichst du gewiß mehr, als du halten kannst,« meinte der Junge. – »Ich wäre ein schlechter Adler, wenn ich das nicht vermöchte,« entgegnete Gorgo.
Als Gorgo und Däumling von Älvkarleby aufbrachen, waren sie gute Freunde, und Niels setzte sich nun zum Reiten auf dem Rücken des Adlers zurecht. Auf diese Weise hatte er wieder Gelegenheit, etwas von den Gegenden zu sehen, über die sie dahinflogen. Solange der Adler ihn in seiner Klaue gepackt hatte, war ihm das unmöglich gewesen. Es war eigentlich ein Glück für ihn gewesen, daß er nicht gewußt hatte, wo er war, denn wenn ihm jemand erzählt hätte, daß er an jenem Tage über so schöne Orte wie die Uppsalaer Hügel, die große Österbyer Fabrik, die Grube von Dannemora und das alte Schloß Örbyhus hingeflogen war, so würde er sich gewiß sehr gegrämt haben, daß er von allem diesen nichts zu sehen bekommen hatte.
Der Adler trug ihn nun in schnellem Flug über Gästrikland hin. In dem südlichen Teil war nicht viel zu sehen, was seinen Blick hätte fesseln können. Dort breitete sich eine Ebene aus, die fast überall mit Tannenwäldern bestanden war. Aber weiter nach Norden zu zog sich quer durch das Land von der Dalagrenze bis an die botnische Bucht ein schöner Landstrich mit bewaldeten Hügeln, blanken Seen und brausenden Flüssen. Hier lagen dichtbevölkerte Kirchspiele rings um ihre weißen Kirchen herum, Landstraßen und Eisenbahnen kreuzten sich, grüne Bäume umgaben traulich die Häuser und blühende Gärten sandten liebliche Düfte bis hoch in die Luft hinauf.