„Weshalb denn nur?“ fragte Maja ängstlich.

„Wir haben eben etwas sehr Anziehendes“, sagte Schnuck mit einem bescheidenen Lächeln und sah schräg vor sich nieder. „Einen andern Grund weiß ich nicht. Es ist vorgekommen, daß Leute unserer Familie, die sich haben greifen lassen, die furchtbarsten Qualen und zuletzt den Tod haben erleiden müssen.“

„Sind sie aufgefressen worden?“

„Nein, nein,“ sagte Schnuck beruhigend, „das grade nicht. Soviel bekannt ist, nährt sich der Mensch nicht von Libellen. Aber im Menschen leben zuweilen Mordgelüste, die wohl ewig unaufgeklärt bleiben. Es mag Ihnen unglaublich erscheinen, aber in der Tat sind Fälle vorgekommen, in denen sogenannte Knabenmenschen Libellen gefangen haben und ihnen aus purem Vergnügen die Flügel oder die Beine ausgerissen haben. Sie zweifeln?“

„Natürlich zweifle ich daran“, rief Maja entrüstet.

Schnuck zuckte die glitzernden Achseln, ihr Gesicht sah ganz alt aus vor Erkenntnis.

„Ach, wenn man einmal offen sein dürfte,“ sagte sie, ganz blaß vor Traurigkeit, „ich hatte einen Bruder, er berechtigte zu den besten Hoffnungen, nur war er etwas leichtsinnig und leider sehr neugierig. Er fiel in die Hände eines Knaben, der ihm unversehens ein Netz überwarf, das an einer langen Stange befestigt war. Sagen Sie selbst, wer denkt an so was?“

„Nein,“ antwortete die kleine Maja, „an so etwas habe ich niemals gedacht.“

Die Libelle sah sie an.

„Es ist ihm dann ein schwarzes Seil um die Brust gebunden worden, mitten zwischen seinen Flügeln, so daß er wohl auffliegen, aber niemals entrinnen konnte. Jedesmal, wenn mein armer Bruder glaubte, seine Freiheit zurückgewonnen zu haben, sah er sich auf die grausamste Weise an jenem bereits erwähnten Seil wieder in das Bereich des Knaben zurückgezerrt.“

Maja schüttelte nur den Kopf.

„Man darf es sich gar nicht vorstellen“, flüsterte sie traurig.

„Wenn ich einmal einen Tag nicht daran gedacht habe, so träume ich sicher davon“, fuhr Schnuck fort. „Es kam damals sehr viel zusammen. Schließlich starb mein Bruder.“ Schnuck seufzte tief auf.

„Woran starb er?“ fragte Maja in aufrichtiger Teilnahme.

Schnuck konnte nicht gleich antworten, große Tränen brachen aus ihren Augen und liefen langsam über die Wangen:

„Er ist in die Tasche gesteckt worden,“ schluchzte sie, „das hält niemand aus ...“

„Was ist das?“ fragte Maja ängstlich, die kaum in der Lage war, so viel Neues und Böses auf einmal zu verstehn und zu bewältigen.

„Die Tasche“, erklärte ihr Schnuck, „ist eine Vorratskammer, die die Menschen in ihrem äußeren Fell haben. Aber was glauben Sie, das sonst noch darin war? O, in welch furchtbarer Gesellschaft mußte mein armer Bruder seine letzten Atemzüge tun. Sie werden niemals darauf kommen!“

„Nein,“ sagte Maja mit bebendem Atem, „ich werde es nicht ... vielleicht Honig?“

„Nein, nein“, meinte Schnuck, sehr wichtig und sehr traurig zugleich. „Honig werden Sie selten in den Taschen der Menschen finden. Ich will Ihnen sagen, was darin war: es war ein Frosch, ein Taschenschwert und eine gelbe Rübe. Nun?“

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