Freitag, den 15. April.
Der Junge wachte fast die ganze Nacht, aber gegen Morgen schlief er ein, und da träumte er von seinem Vater und seiner Mutter. Er konnte sie kaum erkennen. Sie hatten beide graues Haar bekommen und alte, runzelige Gesichter. Er fragte, woher das komme, und sie antworteten, sie seien so alt geworden, weil sie sich nach ihm gesehnt hatten. Er wurde gerührt und verwundert zugleich, denn er hatte immer gedacht, sie würden froh sein, daß sie ihn los waren.
Als der Junge erwachte, war der Morgen mit schönem, hellen Wetter angebrochen. Erst aß er selbst ein Stück Brot, das er in der Stube fand, dann gab er den Gänsen und der Kuh ihr Morgenfutter und öffnete die Stalltür, so daß die Kuh nach dem nächsten Gehöft hinübergehen konnte. Wenn sie allein gegangen kam, würden die Nachbarn schon verstehen, daß der alten Frau etwas zugestoßen sein müsse. Sie würden nach dem einsamen Gehöft eilen, um zu sehen, was die Alte machte, und wenn sie dann ihren entseelten Körper fanden, würden sie sie begraben.
Kaum waren der Junge und die wilden Gänse in die Luft hinaufgekommen, als sie einen hohen Berg mit fast lotrechten Wänden und einem jäh abgeschnittenen Gipfel erblickten, und sie begriffen, daß dies der Taberg sein müsse. Und oben auf dem Taberge stand Akka mit Aksi und Kaksi, Kolme und Neljä, Biisi und Kuusi und allen sechs Gösseln und wartete auf sie. Das war eine Freude und ein Schnattern und ein Flügelschlagen und Schreien, wie es nicht zu beschreiben ist, als sie sahen, daß es dem Gänserich und Daunenfein gelungen war, Däumling zu finden.
Ziemlich hoch auf den Taberg hinauf wuchs Wald, aber der oberste Gipfel war kahl, und von dort aus konnte man weit umher nach allen Seiten sehen. Sah man nach Osten, nach Süden oder Westen, so war da fast nichts weiter zu sehen, als ein armseliges Hochland mit dunklen Tannenwäldern, braunen Mooren, eisbedeckten Seen und blauenden Bergabhängen. Der Junge mußte zugeben, daß es nicht so aussah, als wenn derjenige, der dies erschaffen hatte, sich besondere Mühe bei seiner Arbeit gegeben hätte, er hatte es nur in aller Eile grob herausgehauen. Sah man dahingegen nach Norden, so war es eine ganz andere Sache. Hier sah das Land so aus, als sei es mit der größten Liebe geformt. Auf der einen Seite sah man lauter schöne Berge, sanfte Täler und silberblanke Flüsse, bis ganz hinab nach dem großen Wetternsee, der eisfrei und glänzend klar dalag und schimmerte, als sei er nicht mit Wasser, sondern mit blauem Licht angefüllt.
Gerade der Wetternsee machte den Blick nach Norden so schön, weil er aussah, als sei ein blauer Schimmer von dem See aufgestiegen und habe sich über das Land verbreitet. Haine und Hügel und die Dächer und die Kirchtürme in Jönköping, die an dem Ufer des Wetternsees hervorlugten, lagen gleichsam eingehüllt in einen blauen Schimmer, der das Auge erfreute. Wenn es im Himmel Länder gab, so mußten sie auch gewiß so blau sein, dachte der Junge und meinte, er habe nun eine kleine Ahnung davon, wie es im Paradiese aussah.
Als die Gänse späterhin am Tage auf ihrem Zuge weiterzogen, flogen sie das blaue Tal hinauf. Sie waren in allerbester Laune, schrien und lärmten, so daß niemand, der Ohren hatte, umhin konnte, sie zu bemerken.
Es traf sich so, daß es der erste wirklich schöne Frühlingstag dort in der Gegend war. Bisher hatte der Lenz seine Arbeit in Regen und Sturm verrichtet, und als nun plötzlich schönes Wetter geworden war, erfaßte die Menschen da unten auf der Erde eine solche Sehnsucht nach Sommer, Wärme und grünen Wäldern, daß es ihnen schwer wurde, bei ihrer Arbeit zu bleiben. Und als die wilden Gänse vorüberzogen, frei und fröhlich, hoch oben über der Erde, war da auch nicht ein einziger, der nicht die Arbeit, mit der er beschäftigt war, einen Augenblick ruhen lieh, um ihnen nachzusehen.
Die ersten, die eines Tages die wilden Gänse sahen, waren die Grubenarbeiter auf dem Taberge, die ganz oben an der Oberfläche des Berges Erz brachen. Als sie sie gackern hörten, hielten sie inne mit dem Bohren ihrer Sprenglöcher, und einer von ihnen rief den Vögeln zu: »Wo reist ihr hin?« Die Gänse verstanden nicht, was er sagte, der Junge aber beugte sich über den Gänserücken und antwortete für sie: »Dahin, wo weder Hacke noch Schlägel ist!« Als die Grubenarbeiter die Worte hörten, dachten sie, ihr Sehnen habe gewiß bewirkt, daß das Gackern der Gänse wie Menschenrede geklungen habe. »Wir wollen mit! Wir wollen mit!« riefen sie. – »Dies Jahr nicht!« schrie der Junge. »Dies Jahr nicht!«
Die wilden Gänse flogen in der Richtung des Tabergflusses nach dem Mönchsee hinab, und beständig machten sie denselben Lärm. Hier auf dem schmalen Landstreif zwischen dem Mönchsee und dem Wetternsee lag Jönköping mit seinen großen Fabrikanlagen. Zuerst flogen die wilden Gänse über die Munkeseer Papierfabrik. Die Mittagspause war gerade beendet und die großen Arbeiterscharen strömten auf das Fabriktor zu. Als sie die wilden Gänse hörten, standen sie einen Augenblick still, um ihnen zu lauschen. »Wo reist ihr hin? Wo reist ihr hin?« rief ein Arbeiter. Die wilden Gänse verstanden nicht, was er sagte, der Junge aber antwortete für sie: »Dahin, wo es weder Maschinen noch Dampfkessel gibt.« Als die Arbeiter die Antwort hörten, glaubten sie, ihr eigenes Sehnen habe bewirkt, daß das Gänsegeschnatter so klinge wie Menschenrede. »Wir wollen mit! Wir wollen mit!« riefen eine ganze Menge von ihnen. »Dies Jahr nicht!« antwortete der Junge. »Dies Jahr nicht!«
Vom Taberg bis Husquarna
Beitragsseiten
Seite 1 von 2