Der Abend.

Der große, zahme Gänserich, der mit in die Luft aufgestiegen war, fühlte sich sehr stolz, so mit den wilden Gänsen über Schonen hin und her zu fliegen und mit den zahmen Vögeln Scherz zu treiben. Aber wie glücklich er auch war, konnte er nicht umhin, am Nachmittag müde zu werden. Er versuchte, tiefer zu atmen und stärker mit den Flügeln zu schlagen, aber trotzdem blieb er mehrere Gänselängen hinter den andern zurück.

Als die wilden Gänse, die zu hinterst flogen, merkten, daß die zahme nicht mitkommen konnte, riefen sie der Gans, die an der Spitze des Keiles flog und den Zug anführte, zu: »Akka von Kebnekajse! Akka von Kebnekajse!« – »Was wollt ihr von mir?« fragte die Führergans. – »Der Weiße bleibt zurück. Der Weiße bleibt zurück.« – »Sagt ihm, daß es leichter ist, schnell zu fliegen als langsam!« rief die Führergans und streckte die Flügel wie bisher.

Der Gänserich versuchte, dem Rat zu folgen und die Schnelligkeit zu erhöhen, davon wurde er aber so ermattet, daß er ganz bis zu den gestutzten Weiden hinabsank, die Äcker und Wiesen einfriedigten.

»Akka! Akka! Akka von Kebnekajse!« riefen von neuem die, die zu hinterst flogen und sahen, wie schwer es für den Gänserich war. – »Was wollt ihr denn schon wieder?« fragte die Führergans und schien sehr verstimmt.

»Der Weiße sinkt auf die Erde nieder. Der Weiße sinkt auf die Erde nieder.« – »Sagt ihm, daß es leichter ist, hoch zu fliegen als niedrig!« rief die Führergans. Und sie mäßigte ihre Geschwindigkeit nicht im geringsten, sondern streckte die Flügel wie bisher.

Der Gänserich versuchte auch diesen Rat, als er aber in die Höhe aufsteigen wollte, wurde er so atemlos, daß es war, als müsse ihm die Brust zerspringen.

»Akka! Akka!« riefen dann die, die zu hinterst flogen. – »Könnt ihr mich denn nicht in Frieden fliegen lassen?« fragte die Führergans und tat noch ungeduldiger als vorhin. – »Der Weiße ist nahe daran, herunterzustürzen. Der Weiße ist nahe daran, herunterzustürzen.« – »Sagt ihm, daß, wer nicht mit der Schar folgen kann, am besten wieder heimkehrt!« rief die Führergans. Und es kam ihr nicht im geringsten in den Sinn, die Geschwindigkeit zu mäßigen, sondern sie streckte die Flügel wie bisher.

»Steht es so!« sagte der Gänserich. Es ward ihm plötzlich klar, daß die wilden Gänse nie daran gedacht hatten, ihn mit nach Lappland hinaufzunehmen. Sie hatten ihn nur des Scherzes halber mitgelockt.

Nein, wie er sich ärgerte, daß ihn die Kräfte jetzt im Stich ließen, so daß er den Landstreichern nicht zeigen konnte, daß eine zahme Gans auch zu etwas zu gebrauchen ist. Und das allerärgerlichste war, daß er in Akka von Kebnekajses Schar hineingeraten war. Denn wenn er auch nur eine zahme Gans war, hatte er doch von einer Führergans gehört, die Akka hieß und fast hundert Jahre alt war. Sie war so angesehen, daß sich die besten wilden Gänse, die es nur gab, ihr anzuschließen pflegten. Niemand aber verachtete zahme Gänse so sehr wie Akka und ihre Schar, und er hätte ihr gern gezeigt, daß er ihnen ebenbürtig sei.

Er flog langsam hinter den andern drein, während er sich mit sich selbst beriet, ob er umkehren oder weiterfliegen sollte. Da sagte plötzlich der kleine Knirps, den er auf dem Rücken hatte: »Lieber Gänserich Martin, du kannst doch wohl begreifen, daß es für dich, der du nie geflogen hast, unmöglich ist, mit den wilden Gänsen ganz bis nach Lappland hinaufzukommen. Willst du nicht lieber umkehren, ehe du dich ganz zuschanden machst?«

Aber der Gänserich kannte nichts Schlimmeres als diesen Häuslerjungen, und kaum ward es ihm klar, daß der armselige Bursche ihm nicht zutraute, die Reise zurücklegen zu können, als er sich auch schon entschloß, auszuhalten. »Sagst du noch ein Wort davon, so schmeiße ich dich in die erste Mergelgrube, über die wir hinfliegen,« sagte er, und im selben Augenblick verlieh ihm der Zorn solche Kräfte, daß er fast ebenso gut fliegen konnte wie irgendeine von den andern.

Er hätte jedoch kaum so weiter fliegen können, aber das tat auch nicht nötig, denn jetzt sank die Sonne schnell, und gerade bei Sonnenuntergang nahmen die Gänse den Kurs abwärts. Und ehe der Junge und der Gänserich sich's versahen, waren sie an das Ufer des Bombsees niedergeschwebt.

»Es scheint die Absicht zu sein, daß wir hier übernachten,« dachte der Junge und hüpfte von dem Rücken des Gänserichs herunter.

Er stand an einem schmalen Sandufer und vor ihm lag ein ziemlich großer See. Der war häßlich anzusehen, denn er war fast ganz mit einer Eiskruste bedeckt, die schmutzig und uneben und voller Risse und Löcher war,


so, wie das Eis im Frühling ist. Das Eis hatte scheinbar seine längste Zeit gesehen, drinnen am Lande hatte es sich schon gelöst und ringsherum hatte es einen breiten Gürtel von schwarzem, blankem Wasser. Aber noch lag es da und verbreitete Kälte und winterliche Unheimlichkeit um sich.

An der andern Seite des Sees schien es hell und frei und bebaut zu sein, aber da, wo sich die Gänse niedergelassen hatten, war eine große Tannenschonung. Und es sah so aus, als wenn der Tannenwald imstande wäre, den Winter festzuhalten. An allen andern Stellen war der Boden frei von Schnee, aber unter den dichten Tannenzweigen lag Schnee, der geschmolzen war und wieder gefroren, geschmolzen und gefroren, bis er hart war wie Eis.

Dem Jungen war es, als sei er in eine Wildnis, in ein Winterland gekommen, und ihm ward so unheimlich zumute, daß er gern laut geschrien hätte.

Er war hungrig. Er hatte den ganzen Tag nichts zu essen bekommen. Aber woher sollte er Essen bekommen? Im Monat März wächst nichts Eßbares weder an der Erde noch an den Bäumen.

Ja, wo sollte er Essen herbekommen, und wer würde ihm ein Dach über dem Haupte geben, und wer würde ihm sein Bett machen, und wer würde ihn an seinem Feuer erwärmen, und wer würde ihn gegen wilde Tiere beschützen?

Denn jetzt war die Sonne fort, und die Kälte stieg vom See herauf, und die Finsternis senkte sich vom Himmel herab, und die Angst kam in den Spuren der Dämmerung geschlichen, und im Walde fing es an zu pusseln und zu rascheln.

Jetzt war es vorbei mit dem frischen Mut, den der Junge gehabt hatte, während er oben in der Luft war, und in seiner Angst sah er sich nach seinen Reisegefährten um. Er hatte ja sonst niemand, an den er sich halten konnte.

Da entdeckte er, daß es mit dem Gänserich noch schlimmer stand als mit ihm. Er war an demselben Fleck liegen geblieben, wo er hinabgeschwebt war, und es sah so aus, als wenn er im Begriff war zu sterben. Der Hals lag schlaff an der Erde, die Augen waren geschlossen, und sein Atmen war nur noch ein schwaches Röcheln.

»Lieber Gänserich Martin,« sagte der Junge, »du mußt versuchen, einen Trunk Wasser zu nehmen! Es sind kaum zwei Schritt bis an den See hinab.«

Aber der Gänserich rührte sich nicht.

Der Junge war ja früher hart gegen alle Tiere gewesen, auch gegen den Gänserich, aber jetzt fand er, daß Martin die einzige Stütze war, die er hatte, und er war schrecklich bange, ihn zu verlieren. Er machte sich sofort daran, ihn zu schieben und zu stoßen, um ihn ans Wasser hinabzubefördern. Der Gänserich war groß und schwer, daher war es ein hartes Stück Arbeit für den Jungen, aber schließlich gelang es ihm.

Der Gänserich kam kopfüber in den See hinein. Einen Augenblick lag er regungslos im Schlamm, aber bald steckte er den Kopf heraus, schüttelte das Wasser aus den Augen und prustete. Dann schwamm er stolz zwischen dem Röhricht und den Rohrkolben dahin.

Die wilden Gänse lagen schon vor ihm draußen im See. Sie hatten sich weder nach dem Gänserich noch nach dem Gänsereiter umgesehen, sondern sich sofort ins Wasser gestürzt. Sie hatten gebadet und sich geputzt, und nun lagen sie da und schlabberten halbverfaultes Entengrün in sich hinein.

Der weiße Gänserich war so glücklich, einen kleinen Barsch zu erblicken. Er schnappte ihn schnell auf, schwamm damit ans Ufer und legte ihn vor den Jungen hin. »Den sollst du zum Dank dafür haben, daß du mir ins Wasser hineinhalfst,« sagte er.

Das war das erstemal im Laufe des ganzen Tages, daß der Junge ein freundliches Wort hörte. Er war so erfreut, daß er Lust hatte, dem Gänserich um den Hals zu fallen, aber er konnte sich doch nicht dazu entschließen. Und auch über das Geschenk freute er sich. Zuerst meinte er, es sei unmöglich, rohen Fisch zu essen, aber dann bekam er doch Lust, den Versuch zu machen.


Er fühlte nach, ob er sein Dolchmesser mitbekommen hatte, und glücklicherweise hing es noch an dem Hosenknopf, aber es war freilich so klein geworden, daß es nicht größer war als ein Streichholz. Nun, er konnte es auf alle Fälle gebrauchen, um den Fisch auszunehmen und die Schuppen zu entfernen, und der Barsch war schnell verzehrt.

Als der Junge gut gesättigt war, überkam ihn ein Gefühl der Scham, daß er etwas hatte essen können, was roh war. »Es scheint wirklich, als ob ich kein Mensch mehr bin, sondern ein richtiger Kobold,« dachte er bei sich.

Die ganze Zeit, während der Junge aß, blieb der Gänserich neben ihm stehen, und als er den letzten Bissen heruntergeschluckt hatte, sagte er mit schwacher Stimme: »Wir haben uns ja mit einem wilden Gänsevolk eingelassen, das alle zahmen Vögel verachtet.« – »Das habe ich freilich auch schon bemerkt,« sagte der Junge. – »Es würde sehr ehrenvoll für mich sein, wenn ich ganz bis nach Lappland hinauf mit ihnen fliegen und ihnen zeigen könnte, daß eine zahme Gans doch auch zu etwas taugt.« – »Hm, ja,« sagte der Junge ein wenig zögernd, denn er glaubte nicht, daß der Gänserich das würde durchführen können, aber er wollte ihm nicht widersprechen. – »Aber ich glaube nicht, daß ich mich allein auf einer solchen Reise zurechtfinden kann,« sagte der Gänserich, »deshalb möchte ich gern wissen, ob du nicht mit mir kommen und mir helfen willst.«

Der Junge hatte natürlich gar nichts anderes gedacht, als daß er so schnell wie möglich wieder nach Hause zurückkehren wollte, und er war so überrascht, daß er gar nicht wußte, was er antworten sollte. »Ich glaubte, wir wären gar keine guten Freunde,« sagte er. Aber das schien der Gänserich ganz vergessen zu haben. Das einzige, was er noch wußte, war, daß der Junge ihm vor einem Augenblick das Leben gerettet hatte.

»Ich muß wohl zu Vater und Mutter zurück,« sagte der Junge. – »Ja, zum Herbst will ich dich zu ihnen zurückbringen,« entgegnete der Gänserich. »Ich will dich nicht verlassen, ehe ich dich daheim auf die Türschwelle niedergesetzt habe.«

Der Junge dachte, daß es am Ende ganz gut sei, wenn er sich den Eltern eine Weile noch nicht zu zeigen brauchte. Der Vorschlag schien ihm gar nicht so übel, und er wollte gerade sagen, daß er darauf einginge, als er hinter sich einen großen Lärm hörte. Es waren die wilden Gänse, die alle auf einmal aus dem See heraufgekommen waren und das Wasser abschüttelten. Dann stellten sie sich in einer langen Reihe auf, die Führergans an der Spitze, und kamen auf die beiden zu.

Als der weiße Gänserich jetzt die wilden Gänse näher betrachtete, war ihm gar nicht so recht geheuer. Er hatte geglaubt, daß sie mehr Ähnlichkeit mit den zahmen Gänsen hätten und daß er sich ihnen verwandter fühlen würde. Sie waren viel kleiner als er, und keine von ihnen war weiß, sie waren alle grau, mit einer braunen Schattierung. – Und vor ihren Augen wurde er beinahe bange. Die waren gelb und schienen, als wenn ein Feuer dahinter brenne. Der Gänserich hatte immer gelernt, daß es am hübschesten sei, langsam und watschelnd zu gehen, aber diese Gänse gingen nicht, sie liefen fast. Am unruhigsten aber wurde er, als er ihre Füße ansah. Sie waren groß, abgetreten und zerrissen. Man konnte sehen, daß sich die wilden Gänse niemals daran kehrten, wohin sie traten. Sie machten keine Umwege. Sonst waren sie sehr zierlich und wohlgepflegt, aber an ihren Füßen konnte man sehen, daß sie arme Leute aus der Wildnis waren.

Der Gänserich hatte gerade noch Zeit, dem Jungen zuzuflüstern: »Antworte nun ordentlich, aber erzähle nicht, wer du bist!« Und dann waren sie da.

Als die wilden Gänse vor ihnen standen, verbeugten sie sich viele Male mit dem Hals, und der Gänserich tat dasselbe, noch mehrmals als sie. Sobald man sich hinreichend begrüßt hatte, sagte die Führergans: »Jetzt können wir wohl erfahren, was für Leute ihr seid?«

»Von mir ist nicht viel zu sagen,« erwiderte der Gänserich. »Ich bin im letzten Frühling in Skanör geboren. Im Herbst wurde ich an Holger Nielsen in Westvemmenhög verkauft, und da bin ich seither gewesen.«

»Es scheint ja gerade nicht, als wenn du Grund hättest, mit deiner Familie zu prahlen,« sagte die Führergans. »Was macht dich denn so eingebildet, daß du dich den wilden Gänsen anschließen willst?« – »Es könnte ja sein, daß ich euch wilden Gänsen zeigen will, daß auch wir zahmen Gänse zu etwas zu gebrauchen sind,« sagte der Gänserich. – »Das wäre ja schön, wenn du uns das zeigen wolltest!« meinte die Führergans. »Wir haben nun schon gesehen, wie gut du fliegen kannst, aber vielleicht bist du tüchtiger auf anderen Gebieten. Du hast vielleicht Übung im langen Schwimmen?« – »Nein, dessen kann ich mich nicht rühmen.« Er glaubte schon


merken zu können, daß die Führergans bereits beschlossen hatte, ihn heimzusenden, und er machte sich nichts daraus, was er antwortete. »Ich bin nie weiter geschwommen als über eine Mergelgrube,« fuhr er fort. – »Dann erwarte ich, daß du ein Meister im Laufen bist,« sagte die Gans. – »Nie habe ich eine zahme Gans laufen sehen, und habe es auch selbst nicht getan,« sagte der Gänserich und machte sich noch geringer, als er war.

Der große Weiße war nun fest überzeugt, daß die Führergans sagen würde, sie wolle ihn unter keinen Umständen mitnehmen. Er war höchlichst überrascht, als sie sagte: »Du antwortest mutig, wenn man dich fragt, und wer Mut hat, kann ein guter Reisekamerad werden, wenn er auch im Anfang nicht tüchtig ist. Was meinst du dazu, daß du ein paar Tage bei uns bleibst, bis wir gesehen haben, ob du zu etwas zu gebrauchen bist?« »Damit bin ich sehr zufrieden,« sagte der Gänserich und war sehr vergnügt.

Darauf zeigte die Führergans mit dem Schnabel auf den Jungen und sagte: »Aber wer ist denn das, den du da bei dir hast? So einen hab' ich noch nie gesehen.« – »Das ist mein Kamerad,« sagte die Gans. »Er ist sein ganzes Leben lang Gänsejunge gewesen. Er kann sicher auf der Reise von Nutzen sein.« – »Das mag ja für eine zahme Gans ganz gut sein,« entgegnete die wilde. »Wie heißt er?« – »Er hat mehrere Namen,« sagte der Gänserich zögernd und wußte nicht, was er in der Eile ersinnen sollte, denn er wollte nicht verraten, daß der Junge einen Menschennamen hatte. »Er heißt Däumling!« sagte er endlich. »Ist er aus dem Geschlecht der Kobolde?« fragte die Führergans. – »Um welche Zeit pflegt ihr Wildgänse euch eigentlich zum Schlafen hinzusetzen?« fragte der Gänserich schnell, um der Antwort auf die letzte Frage zu entgehen. »Meine Augen fallen um diese Zeit des Tages von selbst zu.«

Es war leicht zu sehen, daß die Gans, die mit dem Gänserich sprach, sehr alt war. Das ganze Federkleid war eisgrau, ohne dunkle Streifen. Der Kopf war größer, die Beine gröber und die Füße mehr abgetreten als die irgendeiner andern Gans. Die Federn waren steif, die Flügel knochig, und der Hals war dünn. Dies alles war das Werk des Alters. Nur den Augen hatte die Zeit nichts anzuhaben vermocht. Sie schienen klarer, gleichsam jünger als die all der andern.

Sie wandte sich jetzt mit Würde an den Gänserich. »Jetzt sollst du wissen, Gänserich, daß ich Akka von Kebnekajse bin, und die Gans, die zu meiner Rechten fliegt, ist Yki von Vassijaure, und die zu meiner Linken ist Kaksi von Nuolja! Du sollst auch wissen, daß die zweite Gans zur Rechten Kolme von Svappavara ist, und dahinter fliegt Viisi von den Oviksbergen und Kuusi von Sjangeli! Und du sollst wissen, daß diese, sowie die sechs jungen Gänse, die zu hinterst fliegen, drei rechts und drei links, alle Hochgebirgsgänse von edelstem Stamme sind. Du mußt uns nicht für Landstreicher halten, die mit jedem Beliebigen fliegen, und du mußt nicht glauben, daß wir unsern Schlafplatz mit jemand teilen, der nicht sagen will, welcher Familie er entstammt.«

Als die Führergans also sprach, ging der Junge schnell auf sie zu. Es hatte ihm weh getan, daß der Gänserich, der so mutig für sich selbst geantwortet hatte, so ausweichende Antworten gab, als es sich um ihn handelte. »Ich will nicht verheimlichen, wer ich bin,« sagte er. »Ich heiße Niels Holgersen und bin der Sohn eines Häuslers, und bis auf den heutigen Tag bin ich ein Mensch gewesen, aber heute vormittag...«

Weiter kam er nicht. Kaum hatte er gesagt, daß er ein Mensch sei, als die Führergans drei Schritt zurückwich, und die andern noch weiter. Und sie machten alle lange Hälse und fauchten ihn an.

»Diesen Verdacht habe ich von dem ersten Augenblick an gehabt, als ich dich hier an dem Ufer des Sees sah,« sagte Akka. »Und nun mußt du dich sofort entfernen. Wir dulden keine Menschen unter uns.«

»Es ist doch nicht möglich,« sagte der Gänserich vermittelnd, »daß ihr wilden Gänse vor einem bange sein könnt, der so klein ist. Morgen soll er auch nach Hause reisen, aber über Nacht müßt ihr ihn wirklich hier bei uns bleiben lassen. Niemand von uns kann es verantworten, so einen armen Kleinen jetzt zu nächtlicher Stunde sich auf eigene Hand gegen Wiesel und Füchse verteidigen zu lassen.«

Die wilde Gans kam jetzt näher heran, aber es war leicht zu sehen, daß es ihr schwer wurde, ihre Furcht zu beherrschen. »Ich habe gelernt, vor allem bange zu sein, was einen Menschennamen trägt, mag es groß oder klein sein,« sagte sie. »Aber wenn du, Gänserich, für den da einstehen willst, daß er uns keinen Schaden zufügt, so kann er wohl Erlaubnis bekommen, über Nacht hier bei uns zu bleiben. Ich fürchte freilich, daß unser Nachtquartier weder dir noch ihm behagen wird, denn wir haben die Absicht, uns zum Schlafen da draußen auf der Eisscholle niederzulassen.«


Sie dachte wohl, daß der Gänserich seine Bedenken dabei haben würde. Der aber ließ sich nicht anfechten. »Ihr seid wirklich klug, daß ihr es versteht, einen so sichern Schlafplatz zu erwählen,« sagte er.

»Aber du stehst uns dafür ein, daß er sich morgen nach Hause begibt.« – »Ja, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als euch ebenfalls zu verlassen,« sagte der Gänserich. »Ich habe versprochen, daß ich ihn nicht im Stich lassen will.«

»Es steht dir frei, zu fliegen, wohin du willst,« entgegnete die Führergans.

Damit hob sie die Flügel und flog über das Eis dahin, und eine wilde Gans nach der andern folgte ihr.

Der Junge war betrübt, daß nun aus seiner Reise nach Lappland nichts wurde, und außerdem ängstigte er sich vor dem kalten Nachtquartier. »Das wird ja immer schlimmer, Gänserich,« sagte er. »Erstens erfrieren wir draußen auf dem Eise.«

Aber der Gänserich war guten Mutes. »Das hat keine Not,« sagte er. »Jetzt will ich dich nur bitten, so schnell wie möglich soviel Gras und Stroh zusammenzusammeln, wie du nur tragen kannst.«

Als der Junge den ganzen Arm voll von welkem Gras hatte, packte ihn der Gänserich in seinen Hemdbund, hob ihn empor und flog auf das Eis, wo die wilden Gänse schon standen und schliefen, den Schnabel unter dem Flügel.

»Breite nun das Gras auf das Eis aus, damit ich etwas habe, worauf ich stehen kann, ohne festzufrieren. Hilfst du mir, dann werde ich dir auch helfen,« sagte der Gänserich.

Das tat der Junge, und sobald er fertig war, packte der Gänserich ihn noch einmal in den Hemdbund und steckte ihn unter seinen Flügel. »Da, denke ich, wirst du gut und warm liegen,« sagte er und klemmte den Flügel fest heran.

Der Junge lag so in Daunen eingepackt, daß er nicht antworten konnte, aber herrlich warm lag er, und müde war er, und schlafen tat er im selben Augenblick.

Die Nacht.

Es ist eine alte Wahrheit, daß Eis immer verräterisch ist, und daß man sich nicht darauf verlassen kann. Mitten in der Nacht geriet die Eisscholle auf dem Vombsee in Bewegung, so daß sie an einer einzelnen Stelle gegen das Ufer stieß. Und nun geschah es, daß Reineke Fuchs, der zu jener Zeit an der östlichen Seite des Sees im Park bei Övedskloster wohnte, dies entdeckte, als er auf einer nächtlichen Jagd draußen war. Reineke hatte die wilden Gänse schon am Abend gesehen, aber er hatte nicht erwartet, einer von ihnen habhaft zu werden. Jetzt begab er sich schnell auf das Eis hinaus.

Als Reineke ganz dicht bei den wilden Gänsen angelangt war, glitt er aus, so daß seine Klauen gegen das Eis kratzten. Die Gänse erwachten und schlugen mit den Flügeln, um sich in die Luft emporzuschwingen. Aber Reineke war ihnen zu flink. Wie aus einer Kanone geschossen, kam er angesaust, faßte eine Gans am Flügel und stürzte wieder an das Ufer zurück.

Aber in dieser Nacht waren die wilden Gänse nicht allein auf dem Eise; sie hatten einen Menschen unter sich, wie klein der auch war. Der Knabe erwachte durch das Flügelschlagen des Gänserichs. Er war auf das Eis hinabgefallen und saß da nun ganz wach. Er hatte von dem ganzen Spektakel nichts verstanden, bis er einen kleinen kurzbeinigen Hund mit einer Gans im Maul über das Eis davonlaufen sah.

Der Junge lief gleich hinterdrein, um dem Hund die Gans wegzunehmen. Wohl hörte er den Gänserich hinter sich dreinrufen: »Nimm dich in acht, Däumeling! Nimm dich in acht!« – »Aber vor so einem kleinen Hund brauche ich doch nicht bange zu sein,« dachte der Junge und stürmte dahin.

Die wilde Gans, die Reineke Fuchs geraubt hatte, hörte den Lärm von den Holzschuhen des Jungen, die auf dem Eise klapperten, und sie wollte ihren eigenen Ohren kaum trauen. »Glaubt der Knirps, daß er mich dem Fuchs entreißen kann?« dachte sie. Und wie übel es ihr auch erging, es begann in ihrer Kehle ganz munter zu glucksen, fast als lache sie.


»Das erste, was geschieht, ist, daß er in einen Riß im Eise fällt,« dachte sie.

Aber wie dunkel auch die Nacht war, sah der Junge doch deutlich alle Risse und Löcher, die im Eise waren, und sprang kühn darüber hinweg. Das kam daher, daß er jetzt die guten Nachtaugen der Kobolde hatte und im Dunkeln sehen konnte. Er sah den See wie auch das Ufer so deutlich, als sei es Tag.

Reineke Fuchs lief auf das Eis hinauf, da, wo es ans Land stieß, und gerade als er sich an dem steilen Ufer hinaufarbeitete, rief ihm der Junge zu: »Laß die Gans los, du Schlingel!« Reineke wußte nicht, wer da rief, und ließ sich keine Zeit, sich umzusehen, er beschleunigte nur seinen Lauf.

Der Fuchs lief nun in einen Wald mit großen, prächtigen Buchen, und der Junge folgte ihm, ohne daran zu denken, daß ihm Gefahr drohen könne. Dahingegen dachte er die ganze Zeit daran, wie verächtlich die wilden Gänse ihn am vorhergehenden Abend behandelt hatten, und er hatte wohl Lust, ihnen zu zeigen, daß ein Mensch doch ein wenig über allen andern Geschöpfen steht.

Einmal über das andere rief er dem Hunde zu, daß er die Beute fahren lassen solle. »So ein Hund, der sich nicht schämt, eine Gans zu stehlen!« sagte er. »Laß sie sofort los, sonst prügle ich dich, darauf kannst du dich verlassen. Laß sie los, sage ich, sonst werde ich deinem Herrn erzählen, wie du dich aufführst.«

Als Reineke Fuchs merkte, daß man ihn für einen Hund hielt, der vor Prügel bange ist, fand er das so komisch, daß er kurz davor war, die Gans fallen zu lassen. Reineke war ein großer Räuber, der sich nicht damit begnügte, hinter Mäusen und Ratten auf den Feldern dreinzujagen, sondern der sich auch auf die Höfe wagte, um Hühner und Gänse zu stehlen. Er wußte, daß er in der ganzen Umgegend gefürchtet war. Etwas so Törichtes hatte er nicht gehört, seit er ein ganz kleines Füchslein war.

Aber der Junge lief so, daß er ein Gefühl hatte, als glitten die dicken Buchen rückwärts an ihm vorüber, und er holte Reineke ein. Schließlich war er ihm so nahe, daß er den Schwanz gefaßt bekam. »Jetzt nehme ich dir doch die Gans weg!« rief er und hielt so fest, wie er nur konnte. Aber er war nicht stark genug, um Reineke zurückzuhalten. Der Fuchs zog ihn mit sich, so daß die welken Buchenblätter um ihn herstoben.

Aber jetzt schien es, als wenn Reineke dahintergekommen sei, wie klein der Verfolger war. Er stand still, legte die Gans an die Erde nieder und setzte die Vorderpfoten darauf, damit sie nicht wegfliegen sollte. Er wollte ihr gerade die Kehle durchbeißen, aber er konnte sich nicht enthalten, den Knirps erst ein wenig zu necken: »Mach' daß du nach Hause kommst und verklag mich beim Hausherrn, denn nun beiße ich die Gans tot!« sagte er.

Wer erstaunt war, als er sah, was für eine spitze Schnauze, als er hörte, was für eine heisere und häßliche Stimme der Hund hatte, den er verfolgte, das war der Junge. Aber er wurde nun auch so wütend darüber, daß sich der Fuchs lustig über ihn machte, daß er nicht daran dachte, bange zu sein. Er umklammerte den Schwanz noch fester, stemmte die Füße gegen die Wurzel einer Buche, und im selben Augenblick, als der Fuchs den Rachen über der Kehle der Gans aufriß, zog er mit aller Macht an. Reineke war so überrascht, daß er sich ein paar Schritte rückwärts ziehen ließ, und die wilde Gans wurde frei. Die hob sich mit Mühe in die Luft empor. Einer ihrer Flügel war verletzt, so daß sie ihn kaum gebrauchen konnte, und außerdem konnte sie in der dunklen Nacht nichts im Walde sehen, sondern war so hilflos wie ein Blinder. Deswegen konnte sie dem Jungen in keiner Weise helfen, sondern strebte einer Öffnung im Laubdach zu und flog wieder nach dem See hinab.

Reineke aber stürzte sich über den Jungen. »Krieg' ich die eine nicht, so will ich den andern haben!« sagte er, und man konnte es seiner Stimme anhören, wie wütend er war. »Das bilde dir nur ja nicht ein,« sagte der Junge und war ganz mutig, weil er die Gans gerettet hatte. Er hielt sich noch immer am Fuchsschwanz fest und schwang sich daran auf die andere Seite hinüber, wenn der Fuchs ihn zu fangen suchte.

Das war ein Tanz im Walde, so daß die Buchenblätter aufwirbelten. Reineke drehte sich unaufhörlich herum, aber der Schwanz drehte sich mit, und der Junge hielt sich daran fest, so daß der Fuchs ihn nicht kriegen konnte.

Der Junge war so froh über sein Glück, daß er anfangs nur lachte und sich über den Fuchs lustig machte, aber Reineke war beharrlich, wie es alte Jäger zu sein pflegen, und der Junge wurde allmählich bange, die Sache könne damit enden, daß ihn der Fuchs erwischte.


Da gewahrte er eine kleine, junge Buche, die so dünn wie eine Gerte in die Luft geschossen war, um schnell in die freie Luft über dem Laubdach zu gelangen, das die alten Buchen über ihr aufgebaut hatten. Schnell ließ er den Fuchsschwanz los und kletterte in die Buche hinauf. Reineke Fuchs war so eifrig, daß er noch eine ganze Weile hinter dem Schwanz her weiter tanzte. »Jetzt brauchst du dir nicht die Mühe zu machen und noch länger zu tanzen,« sagte der Junge.

Aber der Fuchs konnte den Schimpf nicht ertragen, daß er so einen kleinen Knirps nicht zu bewältigen vermochte, und er legte sich unter den Baum und hielt Wache.

Der Junge fühlte sich gar nicht behaglich, wie er dort rittlings über einem dünnen Zweig saß. Die kleine Buche reichte noch nicht bis an das hohe Laubdach hinan. Er konnte nicht auf einen andern Baum hinübergelangen, und er wagte nicht, von dem Baum hinunterzuspringen.

Es fror ihn, so daß er ganz steif wurde und nahe daran war, den Zweig loszulassen, und er war so schrecklich müde, aber er wagte nicht, sich hineinzusetzen, aus Furcht herunterzufallen.

Es war gar nicht auszudenken, wie unheimlich es war, so zu nächtlicher Zeit draußen im Walde zu sitzen. Er hatte bisher nie gewußt, was es heißt, daß es Nacht war. Es war als sei die ganze Welt versteinert und könne nie wieder Leben gewinnen.

Und dann fing es an zu tagen, und der Junge freute sich, denn jetzt sah alles wieder so aus wie sonst, nur fand er, daß die Kälte noch schneidender wurde, als sie in der Nacht gewesen war.

Als die Sonne endlich aufging, war sie nicht gelb, sondern rot. Der Junge fand, sie sähe so böse aus und er grübelte nach, worüber sie wohl böse sein könne. Vielleicht darüber, daß die Nacht es so kalt und dunkel auf der Erde gemacht hatte, während die Sonne fort war.

Die Sonnenstrahlen kamen in großen Bündeln herbeigeeilt, um zu sehen, was die Nacht Schlimmes angerichtet hatte, und es sah so aus, als wenn alle Dinge erröteten, wie wenn sie ein schlechtes Gewissen hätten. Die Wolken am Himmel, die seidenglatten Buchenstämme, die kleinen ineinandergeflochtenen Zweige des Laubdaches, der Reif, der das Buchenlaub am Waldboden bedeckte, alles erglühte und errötete.

Aber es kamen immer mehr Strahlenbündel durch die Luft dahergeeilt, und bald war all das Unheimliche in der Natur in die Flucht getrieben.

Die Versteinerung war geschwunden, und es kam so erstaunlich viel Lebendes zum Vorschein. Der Schwarzspecht mit dem roten Nacken begann mit dem Schnabel gegen einen Baumstamm zu picken. Das Eichhörnchen hüpfte mit einer Nuß aus seinem Nest heraus, setzte sich auf einen Zweig und machte sich daran, die Nuß zu knacken. Der Star kam mit einer Wurzelfaser geflogen, und im Wipfel des Baumes sang der Buchfink.

Da begriff der Junge, daß die Sonne zu diesen kleinen Geschöpfen gesagt hatte: »Jetzt könnt ihr erwachen und aus euern Nestern herauskommen! Jetzt bin ich hier, jetzt braucht ihr vor nichts bange zu sein!«

Vom See her konnte man die Schreie der wilden Gänse hören, während sie sich zum Fluge anschickten. Gleich darauf kamen alle vierzehn Gänse über den Wald geflogen. Der Junge versuchte, sie zu rufen, aber sie flogen so hoch oben, daß seine Stimme sie nicht erreichen konnte. Sie glaubten wohl, daß der Fuchs ihn schon lange aufgefressen habe. Sie fanden es nicht einmal der Mühe wert, nach ihm zu suchen.

Der Junge war nahe daran, vor Angst zu weinen, aber nun stand die Sonne goldgelb und munter am Himmel und flößte der ganzen Welt Mut ein. »Du brauchst nie bange zu sein, oder dich über etwas zu beunruhigen, Niels Holgersen, so lange ich hier bin,« sagte die Sonne.

Das Gänsespiel.

Montag, den 21. März.

Im Walde blieb alles so, wie es war, ungefähr so lange, wie eine Gans braucht, um Frühstück zu essen, aber gerade, als der Morgen im Begriff war, in den Vormittag überzugehen, kam eine einsame wilde Gans unter das


dichte Laubdach geflogen. Sie tastete sich zwischen den Stämmen und Zweigen hindurch und flog ganz langsam. Sobald Reineke Fuchs sie sah, verließ er seinen Platz unter der kleinen Buche und schlich auf sie zu. Die wilde Gans flüchtete nicht vor dem Fuchs, sondern flog ganz dicht an ihm vorüber. Reineke sprang hoch in die Höhe nach ihr, konnte sie jedoch nicht packen, und die Gans flog weiter, dem See zu.

Es währte nicht lange, da kam eine neue wilde Gans geflogen. Sie kam denselben Weg wie die erste und flog noch niedriger und langsamer. Auch sie flog dicht an Reineke Fuchs vorüber, und er sprang so hoch nach ihr, daß seine Ohren ihre Füße berührten, aber sie entkam doch unbeschädigt und setzte ihren Weg stumm wie ein Schatten nach dem See zu fort.

Es verging eine kleine Weile, dann kam wieder eine wilde Gans. Sie flog noch niedriger und langsamer, es schien, als werde es ihr noch schwerer, den Weg zwischen den Buchenstämmen zu finden. Reineke machte einen mächtigen Sprung, und es fehlte nur eines Haares Breite, daß er sie gefaßt hätte. Aber auch diese Gans entkam.

Gleich nachdem sie verschwunden war, kam eine vierte wilde Gans. Obgleich sie so langsam und so schlecht flog, daß Reineke meinte, er könne sie ohne Mühe fangen, war er jetzt bange, daß ihm ein Unfall zustoßen könne, und er wollte sie unangerührt wegfliegen lassen. Aber sie flog denselben Weg wie die andere, und als sie gerade über Reineke angelangt war, schwebte sie so tief herab, daß er sich verleiten ließ, nach ihr in die Höhe zu springen. Er gelangte so hoch, daß er sie mit der Pfote berührte, aber sie warf sich schnell auf die Seite und rettete ihr Leben.

Ehe Reineke noch Atem geschöpft hatte, kamen drei Gänse in einer Reihe. Sie kamen genau so geflogen wie die andern, und Reineke sprang nach ihnen allen hoch in die Höhe, aber es gelang ihm nicht, eine von ihnen zu fangen.

Dann kamen fünf Gänse, aber sie flogen besser als die vorhergehenden, und obwohl auch sie so aussahen, als wollten sie Reineke verlocken zu springen, widerstand er der Versuchung.

Ziemlich lange darauf kam eine einsame Gans. Das war die dreizehnte. Die war so alt, daß sie ganz grau war und nicht einen einzigen braunen Strich an ihrem ganzen Körper hatte. Es sah so aus, als könne sie den einen Flügel nicht recht gebrauchen, sie flog so jämmerlich und so schief, daß sie fast die Erde berührte. Reineke begnügte sich nicht damit, hoch nach ihr in die Höhe zu springen, er verfolgte sie in schnellem Lauf bis an den See hinab, aber auch diesmal wurden seine Anstrengungen nicht belohnt.

Die vierzehnte Gans kam, und das sah sehr hübsch aus; sie war weiß, und es schimmerte wie eine Lichtung in dem dunklen Walde, wenn sie ihre großen Flügel schwang. Als Reineke die sah, bot er alle Kräfte auf und hüpfte halbwegs bis an das Laubdach hinauf, aber die weiße Gans flog ganz unbeschädigt davon, genau so wie alle die andern.

Nun wurde es eine Weile still unter den Buchen. Es schien, als sei der ganze Schwarm wilder Gänse vorübergezogen.

Plötzlich fiel Reineke sein Gefangener ein, und er sah zu der Buche hinauf. Wie zu erwarten stand, war der Knirps verschwunden.

Aber Reineke blieb nicht viel Zeit, an ihn zu denken, denn nun kam die erste Gans vom See zurück und flog so langsam wie vorher unter dem Laubdach dahin. Trotz all seines Mißgeschickes freute sich Reineke, daß sie zurückkam, und er stürzte mit einem hohen Sprung auf sie zu. Aber er war zu hastig gewesen und hatte sich keine Zeit gelassen, den Sprung zu berechnen, so daß er nebenbei sprang.

Auf die Gans folgte eine zweite und eine dritte und eine vierte und eine fünfte, bis die Reihe wieder herum war und mit der alten Eisgrauen und der großen Weißen endete.

Sie flogen alle langsam und niedrig. Gerade als sie über Reineke Fuchs dahinschwebten, ließen sie sich herab, als wollten sie ihn auffordern, sie zu fangen. Und Reineke verfolgte sie und machte Sprünge, die ein paar Klafter hoch waren, ohne jedoch auch nur eine einzige von ihnen fangen zu können.


Das war der schlimmste Tag, den Reineke Fuchs jemals erlebt hatte. Die wilden Gänse flogen unaufhörlich über seinem Kopf, kamen und verschwanden. Große, schöne Gänse, die sich auf den deutschen Feldern und Heiden dick gefressen hatten, flogen den ganzen Tag im Walde herum, so in seiner Nähe, daß er sie viele Male berührte, und es gelang ihm nicht, seinen Hunger an einer einzigen von ihnen zu stillen.

Der Winter war kaum vorüber, und Reineke entsann sich langer Tage und Nächte, wo er sich müßig herumgetrieben hatte, ohne daß ihm ein Stück Wild in den Wurf gekommen wäre, denn die Zugvögel waren fort, die Mäuse versteckten sich unter der gefrorenen Erdrinde und die Hühner waren eingeschlossen. Aber all der Hunger des ganzen Winters war nicht so hart gewesen wie die Enttäuschung dieses Tages.

Reineke war kein junger Fuchs mehr. Er hatte gar manches Mal die Hunde hinter sich drein gehabt und die Kugeln um seine Ohren pfeifen hören. Er hatte tief in seinem Bau verborgen gelegen, während die Dachshunde in den Gängen herumkrochen und kurz davor waren, ihn zu finden. Aber all die Angst, die Reineke bei der heißesten Jagd ausgestanden hatte, war nichts im Vergleich zu der, die er jedesmal empfand, wenn es ihm nicht gelang, eine der wilden Gänse zu erwischen.

Am Morgen, als das Spiel begann, war Reineke so fein gewesen, daß die Gänse staunten, als sie ihn sahen. Reineke liebte die Pracht, und sein Pelz war leuchtend rot, die Brust weiß, die Schnauze schwarz und der Schwanz wallend wie ein Federbusch. Aber als es an diesem Tage Abend wurde, hing Reinekes Pelz in Zotteln herunter, er war in Schweiß gebadet, seine Augen waren glanzlos, die Zunge hing ihm lang aus dem keuchenden Rachen, und aus dem Munde floß Schaum.

Am Nachmittag war Reineke so müde, daß er ganz von Sinn und Verstand war. Er sah nichts weiter vor seinen Augen als fliegende Gänse. Er sprang nach Sonnenflecken, die er am Erdboden sah, und nach einem armseligen Schmetterling, der zu früh aus der Puppe gekrochen war.

Die wilden Gänse flogen und flogen unermüdlich. Sie peinigten Reineke den ganzen Tag. Es bewegte sie nicht zu Mitleid, daß er vernichtet, erregt, wahnsinnig war. Sie fuhren unerbittlich fort, obwohl sie recht gut verstanden, daß er sie kaum sah, daß er nach ihren Schatten sprang.

Erst als Reineke Fuchs ganz kraftlos und matt auf einem Haufen welker Blätter umsank, kurz davor, den Atem aufzugeben, hielten sie inne, ihr Spiel mit ihm zu treiben.

»Jetzt weißt du, Fuchs, wie es dem geht, der es wagt, sich mit Akka von Kebnekajse einzulassen,« riefen sie ihm dann ins Ohr, und damit ließen sie ihn in Ruhe.

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