Als sie den Jungen erblickte, wollte sie davonlaufen. Aber der linke Flügel war aus dem Gelenk und schleppte an der Erde hin, so daß er sie in allen ihren Bewegungen hinderte.

»Du brauchst nicht bange vor mir zu sein,« sagte der Junge und sah gar nicht so böse aus, wie es seine Absicht gewesen war. »Ich bin Däumling, der Reisekamerad des Gänserichs Martin.« Und dann blieb er stehen und wußte nicht, was er weiter sagen sollte.

Es kann zuweilen in dem Ausdruck von Tieren etwas sein, das einen zu der Frage veranlaßt, was für Wesen sind sie eigentlich. Man hat ein Gefühl, daß sie verwandelte Menschen sein könnten. So etwas war da an der kleinen grauen Gans. Sobald Däumling sagte, wer er sei, verneigte sie sich mit dem Halse auf das niedlichste und sagte mit einer so schönen Stimme, daß der Junge unmöglich glauben konnte, daß es eine Gans war, die sprach: »Ich freue mich sehr, daß du hergekommen bist, um mir zu helfen. Der weiße Gänserich hat mir erzählt, daß niemand in der Welt so klug und gut ist wie du.«

Sie sagte das mit einer solchen Anmut und Würde, daß der Junge ganz verlegen wurde. »Das kann nie und nimmer eine richtige Gans sein,« dachte er. »Das ist sicher eine verzauberte Prinzessin.«

Er bekam große Lust, ihr zu helfen und schob die eine Hand unter die Federn und befühlte den Flügelknochen. Der war nicht gebrochen, aber er mußte aus dem Gelenk geraten sein, denn sein Finger geriet in eine leere Gelenkhöhle. »Gib jetzt acht!« sagte er, umfaßte den Knochen fest und preßte ihn da hinein, wo er sitzen sollte. Er machte das außerordentlich schnell und geschickt, wenn man bedenkt, daß es das erstemal war, daß er sich damit abgab, Doktor zu sein, aber es mußte sehr weh getan haben, denn die arme kleine Gans stieß einen einzigen wilden Schrei aus und sank zwischen den Steinen nieder, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben.

Der Junge erschrak sehr. Er hatte ihr helfen wollen, und nun war sie tot. Er eilte schleunigst von dem Steinhaufen herunter und machte sich, so schnell er konnte, aus dem Staube. Er hatte ein Gefühl, als habe er einen Menschen getötet.

Am nächsten Morgen hatte sich der Nebel verzogen, und Akka sagte, daß sie jetzt ihre Reise fortsetzen wollten. Alle die andern waren gleich bereit, nur der weiße Gänserich erhob Einwendungen. Der Junge verstand sehr wohl, daß er seine Freundin, die graue Gans, nicht verlassen wollte. Aber Akka wollte nicht auf ihn hören, und die Schar begab sich von dannen.

Der Junge sprang auf den Rücken des Gänserichs, und dieser folgte der Schar, wenn auch langsam und unwillig. Der Junge dahingegen war froh, von der Insel fortzukommen. Er hatte Gewissensbisse wegen der grauen Gans und hatte nicht gewagt, dem Gänserich zu erzählen, wie es zugegangen war, als er sie hatte kurieren wollen. Es war am besten, daß der Gänserich Martin nie etwas davon erfuhr, dachte er. Trotzdem wunderte er sich, daß der Gänserich es übers Herz bringen konnte, von ihr fortzureisen.

Aber plötzlich machte er kehrt. Er konnte seine kleine Freundin nicht vergessen. Mit der Reise nach Lappland mußte es gehen, wie es wollte, er aber konnte nicht von dannen fliegen, wenn er wußte, daß sie krank und verlassen dalag und verhungern mußte.

Mit ein paar Flügelschlägen war er bei dem Steinhaufen. Aber da lag keine graue Gans zwischen den Steinen. »Daunenfein! Daunenfein! Wo bist du?« schrie der Gänserich.

»Der Fuchs hat sie wohl gefunden und aufgefressen,« dachte der Junge. Im selben Augenblick aber hörte er eine weiche Stimme antworten: »Ich bin hier, Martin! ich bin hier! Ich war nur hinunter, um ein Morgenbad zu nehmen!« Und aus dem Wasser heraus kam die schöne, kleine Gans frisch und gesund und erzählte, wie Däumling ihren Flügel wieder eingerenkt habe, und daß sie nun ganz gesund sei und bereit, die Reise mit anzutreten.

Die Wassertropfen lagen gleich Perlen auf ihren seidenweichen Federn und Däumling dachte abermals, daß sie doch sicher eine richtige Prinzessin sei.

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